Jeden Tag verlassen wir uns auf die
Technik. Egal ob Computer, Handy oder Fernseher - wir nehmen diese elektrischen Helfer als selbstverständlich hin. Unsere Gesellschaft verschmilzt mit der von ihr erschaffenen Technologie, die Grundlage des
Cyberpunk ist längst Realität geworden. Was vor ein paar Jahrzehnten noch Science Fiction war, ist heute überholt. Da sollten wir uns die aktuellen
Visionen unserer Zukunft doch etwas genauer anschauen.
Ich gehe durch die Menschenmassen. Jeder ist mit jedem vernetzt, die Kommunikationsmodule stets im Anschlag. In einer zentralen Datenbank finden wir jeden User mitsamt aktueller Aktivität und gesammelter Geschichte. Manche Gestalten, die mir entgegenkommen wirken schon fast wie Androiden, statt einem Ohr haben sie ein Stück Plastik, welches sie mit dem Kommunikationsnetz verbindet. Kontakt mit ihrer Umgebung halten, Medien konsumieren, den fast schon mechanisch ablaufenden Alltag koordinieren - das alles wird durch den mobilen Knotenpunkt geregelt. Ein Hub zu der Welt, in der sie sich doch eigentlich schon befinden. Sogar die Jüngsten der Gesellschaft werden schon in diesen Prozess eingebunden. Ich schaue an mir herab und bemerke keinen Unterschied zu dem, was ich sehe.
Diese fast schon
dystopisch wirkenden Zeilen beschreiben keine düstere Zukunft, sondern einen Spaziergang über die
Mariahilfer Straße in Wien des Jahres 2012. Wir sind dem Cyberpunk näher, als wir es glauben. Aber was ist dieser
“Cyberpunk” überhaupt?
Wie lange wird es dauern, bis wir uns die Freisprecheinrichtungen implantieren lassen? Film Noir und PhilosophieZwei Dinge definieren den Cyberpunk:
Stil und Setting. Ersteres hat wenig mit Zukunft und Technologie zu tun, ganz im Gegenteil. Die Detektivfilme aus den 40ern und 50ern stehen hier als stilistisches Vorbild ein. Starke Kontraste von
Licht und Schatten, die aus den sichtbaren Menschen nicht viel mehr als Silhouetten und Profile machen. Das sieht nicht nur gut aus, sondern macht auch die Oberflächlichkeit des Zeitgeistes klar. Diese Form des Ausdrucks hat ihren Ursprung im deutschen Expressionismus und lässt sich sogar in älteren Filmen wie
Metropolis (1927) von Fritz Lang wiederfinden. Im Cyberpunk-Genre wird das Licht jedoch nicht von Straßenlaternen, sondern von neonfarbenen Reklametafeln und haushohen Monitoren erzeugt. Ein Blick auf den berühmten
Shibuya Square in Tokyo macht klar, was hier gemeint ist. In dieser realen Szenerie ist es längst soweit: Die Technik scheint Überhand genommen zu haben. Wir sind nur noch Gast in einer Welt, die uns mit ihrer Komplexität schon fast zu überfordern scheint.
Der Shibuya Square in Tokyo könnte aus einem Cyberpunk-Film stammen. Inmitten dieser postmodernen Metropolen finden wir die Protagonisten des Genres wieder, die ebenfalls sehr hochstilisiert sind. Was früher der beinharte Detektiv war, ist heute ein
Hacker, Ermittler oder ein Bürger in einer Notsituation. Und doch haben sie alle etwas mit ihrem Vorbild aus den 40ern gemeinsam: Sie sind Außenseiter, Punks sozusagen. Sie sind Individuen in einer Welt, die sich nach der Masse richtet. Das macht sie zum Antihelden, denn in ihrer Gesellschaft finden sie keinen Platz.
Dunkle Schatten und dubiose Gestalten: Der Film Noir ist durch und durch stilisiert. Das Setting ist nicht so zeitlos wie der Stil, denn es wird stets ein mögliches
Zukunftsszenario dargestellt. Eine Verschmelzung von Mensch und Maschine würde auch in jede Utopie passen, doch macht der Cyberpunk hier einen bedeutenden Unterschied: Er ist unsauber, dreckig und hat unendliche dunkle Gassen. Die Technik ist kein erlösendes Allheilmittel, sondern ein Instrument, welches Verantwortung und Probleme mit sich bringt. Wiederkehrende Motive sind
mächtige Konzerne, von Kontrolle besessene Staaten und kriminelle Organisationen. Zwischen diesen Machtstrukturen finden sich neuartige Subkulturen wieder, die sich durch Aussehen, Lebensstil und Mediennutzung von der breiten, oftmals verblendeten Masse unterscheiden. Durch die Platzierung dieser Außenseiter am Rand der Gesellschaft entstehen Spannungsfelder - der perfekte Ausgangspunkt für interessante Geschichten und philosophische Fragen.
Nun wissen wir in etwa, was man unter Cyberpunk verstehen kann. Dieser Skizze eines Genres kann man durch gelungene Beispiele eine Kontur geben. Einer der wichtigsten Namen in diesem Zusammenhang ist
Philip K. Dick, Science-Fiction-Autor und so wie viele seiner Fans (mich eingeschlossen) meinen, ein Philosoph. Zwar kommt es dieses Jahr bereits zu seinem 30. Todestag, doch das macht seine Visionen nicht weniger zukunftsweisend. Basierend auf seinen Werken entstanden Filme wie
Blade Runner (1982),
Total Recall (1990),
Minority Report (2002),
Paycheck (2003) und der sehr empfehlenswerte
A Scanner Darkly von 2006. Besonders
Blade Runner, der auf der Kurzgeschichte
“Do Androids Dream of Electric Sheep?” basiert, machte das Genre massentauglich. In einem L.A. des Jahres 2019 macht der Detektiv Rick Deckard Jagd auf eine Gruppe entkommener Replikanten (bessere Androiden), die ihre vordefinierte Lebensspanne von vier Jahren verlängern wollen und dafür im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen gehen. Mit dem Genrefilm, sowie der Kurzgeschichte wird eine bedeutende Frage gestellt: Was macht den Menschen menschlich?
Philip K. Dick, eine treibende Kraft hinter der Philosophie des Cyberpunks. Wir treiben die zahlreichen Felder der von uns verwendeten Technologie ständig weiter. Aktuell unterhalten wir uns mit Siri auf dem iPhone, einem sprachgesteuerten Assistenten, der das Smartphone für uns bedient. Währenddessen werden in der Robotik und Bionik immer feinere Bewegungen und realistischere Darstellungen von menschlichem Verhalten möglich. Wenn all diese Teilbereiche zusammenfließen, wirkt die Idee eines Androiden -
ein künstlicher Mensch - plötzlich gar nicht mehr so absurd. Hier setzt Dick seine philosophischen Überlegungen an: Ab welchem Grad der Menschlichkeit wird ein künstliches Wesen zum Menschen? Anders herum geht das natürlich auch. Wie stark muss sich ein Mensch mit künstlichen Implantaten modifizieren, damit er nicht mehr als Mensch gilt?
Hier muss eine wunderbar passende Geschichte erzählt werden. Zu Ehren von Philip K. Dick wurde ein lebensechter
Roboter-Doppelgänger von ihm für die ComicCon gefertigt. Dieser saß in einem Sessel und gab regelmäßig Sinnsprüche seines Vorbilds von sich. Mehrere Jahre lang wurde diese Hommage an Dick ausgestellt, bis sie eines Tages spurlos verschwand. Offiziell hieß es, sie wurde gestohlen, doch die Nerds wussten es besser: Der künstliche Autor muss aufgestanden und seine eigenen Wege gegangen sein. Belege gibt es dafür natürlich keine.
Der Autor lebt als Android weiter, wenn es nach den Fans geht. Zurück zur Fragestellung um die Menschlichkeit des Menschen. Seit den 80ern konnte sich das Cyberpunk-Genre immer wieder mit interessanten und neuartigen
Büchern, Filmen, Spielen und Comics/Mangas beweisen. Dazu zählen die
Neuromancer-Romane von
William Gibson, Animes und Mangas sind hier mit
Akira (1982) und
Ghost in the Shell (1995) vertreten. Der wohl bekannteste westliche Cyberpunk-Film ist
The Matrix von 1999. Davor konnte sich das Pen and Paper Rollenspiel
Shadowrun eine bedeutende Fangemeinde aufbauen. Passenderweise dauerte es nicht lange, bis auch die Computerspiele die Thematik für sich entdeckten. Das Adventure
Beneath a Steel Sky (1993,
kostenlos bei Good Old Games erhältlich!) musste sich vor der Konkurrenz von
Lucas Arts damals nicht verstecken. Das Remake von
Syndicate, dessen Original 1993 sehr erfolgreich war, beweist, dass das Genre nicht tot zu kriegen ist. Die bekanntesten Serien waren bzw. sind mit Sicherheit
Deus Ex und
System Shock. Erstere hatte 2000 einen grandiosen Auftakt mit einer Mischung aus Shooter und Rollenspiel, die Fortsetzung
Deus Ex: Invisible War von 2003 kam bei den Fans jedoch nicht so gut an. Vergangenes Jahr konnte
Deus Ex: Human Revolution einen Überraschungshit liefern, dessen Story noch vor den ersten beiden Teilen angesetzt war und damit als Prequel ins Rennen ging. Die
System Shock-Reihe lieferte 1994 und 1999 zwei unter Fans sehr beliebte Spiele ab. Aktuell wird die Serie inoffiziell als
BioShock weitergeführt - nun aber eher in Richtung “Biopunk”. Selbst in
Star Trek: Die nächste Generation und
Voyager sind Cyberpunk-Motive zu finden. Die künstlichen Wesen Data (Android) und der Doktor (Hologramm), sowie die ehemalige Borg namens
Seven of Nine versuchen als fast menschliche Wesen ihren Platz in unserer Spezies zu finden.
In Star Trek wurde der Trans- und Posthumanismus mit drei Besatzungsmitgliedern aufgegriffen. Eine künstliche Ergänzung des eigenen Körpers ist nichts Neues -
Piraten mit Holzbeinen gab es schon im 16. Jahrhundert. Marshall McLuhan, ein von mir sehr geschätzter Medienwissenschaftler sah sogar in sämtlichen von uns verwendeten Medien eine indirekte Weiterführung des Menschen. Telefone werden zu Mund und Ohren, Buchstaben gleichen den Zähnen und zerstückeln Wörter in einzelne Symbole und eine bespielte Festplatte merkt sich Unmengen von Daten, damit unser Gehirn das nicht tun muss. Dass auf diese grundlegenden Erweiterungen über den Umweg des Holzbeins die Verknüpfung des Körpers mit High-Tech-Teilen folgt, war also abzusehen. Und so haben wir es mittlerweile geschafft, Diabetikern Insulinpumpen einzubauen und Menschen mit schwachem Herzen bekommen einen
Schrittmacher. Sogar gegen das Tourette-Syndrom wurden bereits erfolgreich Hirnschrittmacher eingesetzt, die durch gezielte elektrische Impulse das mit dem Syndrom einhergehende Zwangsverhalten unterdrücken. Das sind keine künstlichen Hüften oder dritte Zähne, sondern technische Apparate.
Nun stellt sich also die Frage: Ab welchem
Grad der Modifikation ist ein Mensch kein Mensch mehr? Künstliches Bein? Ein Mensch, keine Frage. Bionische Augen und Ohren? Nun ja, abgedreht aber noch immer menschlich. Hirn im Tank auf einem Roboter-Körper? Wir sind beim Androiden angekommen. Hologramm mit menschlichem Charakter in einem Quantencomputer. Ab jetzt wird es knifflig. Aktuell ist unser
Bild eines Menschen noch nicht angekratzt, doch das könnte sich ändern. Schließlich können ja auch Firmen als juristische Personen anerkannt werden und Entscheidungen im eigenen Sinne treffen, warum dann nicht auch etwas, das tatsächlich denkt, redet und aussieht wie ein Mensch? Sollte die Verbindung zwischen Mensch und Maschine jemals das Ausmaß erreichen, wie es uns im Cyberpunk gezeigt wird, wird unser Menschenbild ohnehin ins Wackeln kommen.
Transhumanismus in Aktion: Jerry Jalava hat bei einem Unfall einen Finger verloren und ihn einen 2 GB großen USB-Stick ersetzt. Schatten der GegenwartWas ist der Cyberpunk also? Ein Science-Fiction-Genre? Eine dystopische Zukunftsvision? Eine fiktive Weiterführung unserer Besessenheit mit der Technik an sich, oder doch eher ein antiquiertes Schreckgespenst, das in den 80ern seinen Höhepunkt erreicht hat? Irgendwo zwischen historischer Bedeutung und einer ungeschlagenen Aktualität findet sich der hier mühevoll beschriebene Begriff wieder. Im Gegensatz zur konventionellen Science Fiction finden wir beim
Cyberpunk schon die ersten Anzeichen, Möglichkeiten und Risiken auch in unserer Welt wieder. Das macht einen Film wie
Blade Runner deutlich authentischer als zum Beispiel
Star Trek. Die Veranlagung ist vorhanden, die Zeichen sichtbar und die Möglichkeit nicht ausgeschlossen. Genau wie die im Cyberpunk gängige Mischung aus Mensch und Maschine haben wir es bei dem Genre selbst mit einer Mischung aus Fiktion und Realität zu tun. Düster, dunkel und eckig, so wie die Welt nun eben ist. Mit den technischen Mitteln verändert sich auch die Gesellschaft, die sie verwendet. Cyber-Kriminalität wäre vor einem halben Jahrhundert noch undenkbar gewesen, heute lesen wir immer mehr davon. Jeder Aspekt unserer Zivilisation wird in der Technologie widergespiegelt, besonders wenn diese einer breiten Masse zur Verfügung steht. Wie die Zukunft aussieht, das kann niemand sagen. Ob und wie sich Mensch und Maschine angleichen werden und wie die Resultate dieser Fusion aussehen könnten, kann man auch noch nicht garantieren. Aber der Cyberpunk malt ein realistisches Bild, eine Mischung aus
Beruhigung (die Menschen werden nicht von den Maschinen kontrolliert, sondern es findet eine Angleichung statt)
und Warnung vor möglichen Gefahren. Denn dieser künstliche Schritt in der Evolution des Menschen kann uns zu mehr machen, als wir jemals natürlich erreichen könnten. Die Mensch-Maschine hat potentiell eine großartige Zukunft, die allerdings auch ihren Preis fordert. Der Cyberpunk zeigt uns dabei
beide Seiten der Medallie.
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