Heute, 07.11.04, um 20:15 Uhr läuft auf dem Sender VOX eine Dokumentation zum Unglück in Tschernobyl. Weitere Infos gibt es hier:
http://www.vox.de/27471_33120.phpDie aktuelle Ausgabe der russischen PC Games beinhaltet Teil 2 des Entwicklertagebuchs von Stalker. Es wird das "Life Simulation System" erklärt und auch, welche gravierenden Probleme den Entwicklern dabei unterliefen und wie die K.I. überhaupt funktioniert. Pflichtlektüre für alle Stalker in spe
Gibt es Leben in der Zone?
Die künstliche Intelligenz in S.T.A.L.K.E.R. erlaubt es sowohl Personen als auch Tieren, ihre Überlebenschancen abzuwägen und dementsprechend zu handeln. Man wird nicht oft einen Stalker mit einer Pistole sehen, der sich mit einem Soldaten, der ein Sturmgewehr trägt, in einen Kampf einlässt. Natürlich sind seltene Ausnahmen möglich, aber diese werden dann vorkommen, wenn sich ein Stalker in einem psychologisch verwirrten Zustand befindet. Wir haben ein Konzept der „fairen Intelligenz“ eingeführt. Normalerweise wissen die NPCs in Ego-Shootern genau, wo sich der Spieler befindet, weil sie von der göttergleichen, allwissenden K.I. gesteuert werden. In S.T.A.L.K.E.R. kann die gegnerische K.I. nur “vermuten”, wo der Spieler sein könnte. Die K.I. erinnert sich an die letzte Stelle, an der sie den Spieler gesehen hat und versucht ihn dann mit der „Was würde ich an seiner Stelle tun?“-Methode ausfindig zu machen, d.h. die K.I. sucht nach dem Spieler, in dem sie sich ausdenkt, was seine nächste mögliche Position sein könnte. Es ist oft faszinierend zu beobachten, nachdem man heimlich auf den Dachboden eines Bauernhauses hochgeklettert ist, wie die gegnerischen Stalker vorsichtig das Gebäude, mit ihren AK-47 bereit zum Schießen, umkreisen und versuchen sich auszumalen, wo zur Hölle man hingegangen sein könnte.
Während der Entwicklung des Kampfintellekts nahmen wir uns das Verhalten einer normalen Person als Basis, mit dem Hintergedanken, dass die K.I.-gesteuerten NPCs immer die passende realistische Reaktion abhängig von der jeweiligen Situation nachahmen müssen. Während des Kampfes nimmt die K.I. realistisch alle verfügbaren Stellen zur Deckung. Dabei weiß sie, welche Oberflächen durchschossen werden können und welche nicht. Wenn die NPCs es nötig haben, nachzuladen, ziehen sie sich hinter Deckungen zurück, bevor sie ihr Magazin schließlich wechseln. Aus ihrer Deckung kommen sie nur heraus, wenn sie wieder bereit zum Kampf sind. NPCs machen Rückzieher, benutzen Ecken zur Deckung, betreten Gebäude um eine bessere Schussposition zu erlangen und machen noch andere faszinierende Sachen.
Natürlich hatten wir Probleme und eine allgemeine Verwirrung, als wir solch eine komplexe K.I. erschufen. Als wir in einer frühen Testphase der künstlichen Kampfintelligenz waren, gab es mal einen Fall, als ein Stalker verrückt wurde und sich selbst als einen Gegner ansah und versuchte, sich von diesem „Gegner“ so schnell wie nur möglich loszureißen. Leider hatten unsere nichtsnutzigen Animatoren nicht die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass man sich die Waffe an die eigene Schläfe halten kann, also musste der arme Stalker stattdessen auf den einzigen möglichen Körperteil des „Gegners“ schießen, den er erreichen konnte – seine eigenen Füße. Für etwa 10 Minuten schaute das ganze Entwicklerteam, während wir uns auf dem Boden vor Lachen wälzten, zu, wie der Möchtegern-Stalker verzweifelt mit seinen Gliedern kämpfte. Am Ende starb der NPC, nachdem er zwei ganze Magazine verbraucht hatte. Vor dem Tod legte er aber noch die Diagnose „Gegner erfolgreich terminiert“ vor.
Die Zone ist voll von allen möglichen Informationen. Wie in der realen Welt ist es absolut notwendig zu überleben. Eine frühzeitige Warnung, welche von einem freundlich gesinnten Stalker gefunkt wurde, über ein Rudel von blinden Hunden, das in der Gegend gesehen wurde, kann sehr viel Munition sparen und vielleicht sogar dein Leben. Es mag sein, dass Gerüchte über eine unbekannte Baustelle im Westen den Spieler (oder die NPC-Stalkers) dazu bewegen, tiefer in die Zone zu penetrieren. Wir beschränken uns nicht nur auf Informationen, die dem Spieler vorliegen, sondern auch auf Informationen über die zentrale Storyline oder mögliche Quests. In S.T.A.L.K.E.R. werdet ihr euch die wertvollsten Informationen aus einem Strom von tagtäglichen Fakten herauspicken müssen, genau so, wie man es im realen Leben macht. Die Zone ist ständig mit Gerüchten befüllt. So könnte man über eine kürzlich stattgefundene Schlacht zwischen zwei Stalker-Clans erfahren, über einen Unfall eines erfahrenen Stalkers, über ein plötzliches Aufkommen einer heißen Zone, über einen kürzlich entdeckten Artefaktenschatzfund in einem zerstörten Physiklabor u.v.m. Die Aktionen des Spiels als auch der NPC-Stalkers könnten Teil einer Legende werden – auf Basis seiner Taten wird der Spieler in verschiedenen Gruppierungen aufgenommen.
Ein Leben ohne die Menschheit
Nun ist der perfekte Zeitpunkt gekommen, um euch über den kompliziertesten und wichtigsten Teil des „Life Simulation System“ zu erzählen – seine ganze Autonomie.
Wie wir vorhin erwähnten, ist die Zone eine einzige große Gegend, in der man sich frei bewegen kann, es sei denn die umgebungstechnischen Bedingungen erlauben es nicht (d.h. z.B. sind manche Stellen radioaktiv zu stark verstrahlt und der Spieler kann diese Intensität noch nicht aushalten). Dieses Konzept der frei begehbaren Welt ist sicherlich nicht neu, aber kam die Spielwelt bisher in Spielen nur zum Leben, als der Spieler in unmittelbarer Nähe war. Der fundamentale Unterschied in S.T.A.L.K.E.R. hingegen ist, dass das Leben in der Zone nie still steht oder verlangsamt wird, selbst wenn der Spieler an einem kilometerweit entfernten Ort ist. Grafisch gesehen wird natürlich nur das gezeigt, was sich in der Umgebung des Spielers befindet, d.h. in einem bestimmten Radius um den Spieler. ABER, sobald ein NPC oder Monster außerhalb dieses Radius ist, verschwindet dieser nicht magisch vom Erdboden und wird zu Luft, sondern fährt damit fort, weiterzuleben und zu agieren, wie zuvor, wobei nun in einer etwas vereinfachten, rein mathematischen Welt. Hier tragen sich Ereignisse zu wie in der Umgebung des Spielers: Stalker treffen sich, handeln, kämpfen, erledigen Quests, Monster migrieren auf der Suche nach Essen, schlafen und kämpfen. Jedes Ereignis hinterlässt seine Spuren in der Spielwelt. Es ist leicht möglich, dass man auf eine Leiche eines Stalkers trifft, der von einer rivalisierten Gruppe getötet wurde oder man könnte die Folgen einer Schlacht zwischen einer Gruppe von Stalkern und einer Horde von Monstern sehen. Man könnte die Waffe und Ausrüstung eines Stalkers auf dem Boden finden, der von einem Rudel von blinden Hunden getötet und aufgefressen wurde. Es ist sogar möglich, dass man über solche Vorfälle in der Stalker-Bar hört und dann die Stelle erforscht und nebenbei etwas für sich selbst findet. Alle fallen gelassenen Objekte bleiben an Ort und Stelle, bis jemand sie aufhebt oder bewegt, also wird es in der Tat machbar sein, einen privaten Stapel an Sachen irgendwo in der Zone zu erstellen und dort Extraausrüstung zu lagern etc.
Die NPCs sind nicht mehr „Bots“, wie wir sie bisher kennen. Innerhalb der Spielwelt sind sie Leute, die sich von dir nur darin unterscheiden, dass ihre Intelligenz künstlich ist. Tatsächlich ist dies wahrscheinlich auch nur der einzige Vorteil des Spielers, wobei gesagt werden muss, dass wir auch jetzt noch arbeiten, um sicherzustellen, dass die Chancen so fair wie nur möglich verteilt sind. Das bedeutet NICHT, dass NPCs super zielsichere Schützen sein werden oder sich bewegen werden, als ob sie „Jet Packs“ tragen – sie verschießen genauso wie reale Menschen und bewegen sich genau so, wie es der Spieler tut – wir versuchen nur, ihnen ein bisschen die menschliche Denkweise und Unberechenbarkeit einzuflößen. Jeder NPC hat seinen eigenen Namen und seine eigene Hintergrundgeschichte. So könnte man zum Beispiel einen Stalker treffen, der gerade in die Zone zum ersten Mal als ein Neuling gekommen ist und nach einer Weile über seine Erfolge und Misserfolge Gerüchte hören. Wegen diesem einzigartigen Ansatz an die K.I. sind NPCs nicht mehr „non-player“ (nicht Spieler) Charaktere, sondern scheinen eher unabhängig lebende Leute zu sein.
Die Abenteuer von “Gosha”
Anm. d. Red.: “Gosha” ist ein alberner russischer Name, der allgemein dazu verwendet wird, um eine nicht so kluge oder starke Person zu beschreiben. Vielleicht könnte man „Fritzchen“ als das deutsche Pendant nehmen.
Das „Life Simulation System“, das Herzstück der einzigartigen Spielwelt, nahm gute eineinhalb bis zwei Jahre in Anspruch. Im Laufe dieser Zeit überwog unser Enthusiasmus unsere Skepsis bezüglich der ganzen Sache, jedoch gab es eine Zeit, in der wir anfingen, ein „Sicherheitsnetz“ zu erstellen, das wir beabsichtigten zu benutzen, falls das geplante „Life Simulation System“ in die Hose gehen würde. Diese weitaus simplere Alternative beinhaltete ein eher lineares Gameplay mit einer strikten Fortführung der Storyline und Quests, die dem guten alten „Fedex“-Prinzip entsprachen, nämlich „Geh dahin, hol das, komme hier wieder zurück.“ Letztlich war die Entwicklungszeit für das eigentliche „Life Simulation System“ nicht für die Katz’: All die Dinge, über die wir uns so lange gestritten hatten, was fast zu Schlägereien ausgeartet wäre, fingen langsam aber sicher an zu funktionieren und wir vergaßen langsam die Zeiten, als jeder von uns im Laufe der letzten Jahre hundertmal schrie: „Das Sch’^*@&@#$teil will net funktionieren!!!“
Um einige der Elemente des „Life Simulation Systems“ zu testen, erstellten wir ein spezielles Level, das nur ein großes Feld beinhaltete, welches einige Quadratkilometer groß war. Das Testen bestand im Wesentlichen eigentlich nur daraus, dass man einen ganzen Zoo von Monstern und Stalkern in diesem Feld aufeinander losließ und das ganze Entwicklerteam vor dem Bildschirm saß und schaute, was sich zutrug. Um der ganzen Sache zumindest einen Anschein eines richtigen Tests zu geben, gab das Spiel Gameplaystatistiken auf einem anderen Bildschirm gleichzeitig aus, was hauptsächlich in etwa so aussah:
Evnt 119: Stalker ‚Gosha’ #84 wurde von Schweinen zu Tode gebissen
Evnt 120: Stalker ‚Gosha’ #132 erschoss einen Hund (Ich denke nicht, dass Greenpeace unsere Testphasen gemocht hätte )
Evnt 121: Stalker ‚Gosha’ #43 hob das Sturmgewehr auf, das ‚Gosha’ #84 gehörte und steht nun herum wie ein gottverdammter Depp
Evnt 122: Stalker ‚Gosha’ #7 trat auf mehreren Ratten
Evnt 123: Die Freunde der toten Ratten feiern, indem sie sich an einem toten Schwein gütlich tun
Evnt 124: Die Schweine mochten das nicht und verzehrten ‚Gosha’ #43
Evnt 125: Stalker ‚Gosha’ #61 steht vor zwei Sturmgewehren und kratzt sich am Kopf, weil er nicht weiß, welches besser ist und kann nicht beide wie ‚Gosha’ #43 aus religiösen Gründen benutzen
Evnt 126: Stalker ‚Gosha’ #17 ist jedoch kein religiöser Mensch
Evnt 127: Stalker ‚Gosha’ #17 tötete ‚Gosha’ #61
Evnt 128: Stalker ‚Gosha’ #17 nahm alles, was auf dem Boden lag, zusammen mit der Granate, die von ‚Gosha’ #94 fallen gelassen wurde, und der vorher von ‚Gosha’ #84 getötet wurde
…
Das Level wurde mehrmals neugestartet, was uns zeigte, dass ähnliche „verrückte“ Situationen sich etwa zehn- bis fünfzehnmal aus 100 ergaben. Wir hatten Fälle, bei denen ein einziges Sturmgewehr von etwa 20 Leuten in nur einer Runde benutzt wurde. Das „Life Simulation System“ funktionierte, Gott sei Dank, und wir alle feierten unser Glück. Die Probleme, jedoch, endeten aber mit Sicherheit nicht hier…
Originaltext: PC Games (Rus), Ausgabe: 11/2004