Wenn Superhelden nicht gerade ihre Welt retten, dann ändern sie unsere. Ideen werden vorgestellt und hinterfragt, Normen gebrochen und Geschichte geschrieben - Bild für Bild. Ein Blick zurück auf das goldene Zeitalter zeigt, dass es sich dabei um keinen neuen Trend handelt. Was die fiktiven Helden bisher alles geleistet haben und wie sie reale Änderungen herbeiführen wollen, lest ihr hier.
Egal ob Marvel, DC oder ein anderer Verlag - Comics und ihre Helden entführen uns in Welten, in denen die Grenzen unser Realität keine Bedeutung haben. Superkräfte, Aliens und Parallelwelten gehören zum Alltag der vielseitigen Charaktere. Hinter der Maske von Batman und dem Anzug von Iron Man - beide Beweise, dass Geld als Superkraft zählt - stecken jedoch mehr als nur austauschbare Strahlemänner. Während Tony Stark zeigt, wie nahe Genie und Wahnsinn beieinander liegen, hat Bruce Wayne diesen bereits verinnerlicht. Nur weil man sich mit Superschurken anlegen kann heißt das noch lange nicht, dass man damit ohne posttraumatische Belastungsstörung davon kommt. Beide Helden weisen typische Symptome dafür auf: Suchtverhalten, aggressive Verhaltensmuster, Bindungsstörungen und ein selbstgefährdendes Verhalten. Bruce und Tony zeigen uns den Abgrund der menschlichen Seele während sie den Tag retten.
Das ist kein Trend, der erst mit den Comic-Verfilmungen oder mit einem der vielen, vielen Reboots einer Serie aufgekommen ist. Der Superheld als Symbol ist sogar die Grundlage einiger Charaktere. Der wohl bekannteste ist Captain America, der seit 1941 für sein Land kämpft. Ursprünglich als Propaganda-Figur entwickelte er sich schnell zu der Verkörperung einer Idee. Seine Ursprungsgeschichte - jeder gute Held hat schließlich eine - handelt davon, wie sich der schmächtige Steve Rogers freiwillig für ein Experiment meldet welches ihm übermenschliche Kräfte verleiht. Im Endeffekt wird er dadurch zu dem, was seine Feinde - die Nazis - mit ihrem Rassenwahn anstreben: ein perfekter Mensch mit blonden Haaren und blauen Augen. Sehr zum Ärger des dritten Reiches läuft dieses Muskelpaket aber in den Nationalfarben der USA durch die Gegend und kämpft gegen alles, was das Regime anstrebt. Da hätte er sich gleich "Captain In Your Face" nennen können. Dementsprechend symbolträchtig war auch der Tod des Helden, welcher 2007 vor einem Gerichtsgebäude erschossen wurde. Ein mutiger Schritt, den man auch als Marvel's Kommentar zum "Tod des amerikanischen Traums" interpretieren konnte. Nur leider war der Charakter zu beliebt, daher war er gar nicht tot - sondern nur auf Zeitreise. Steve wird bald sein Vibranium-Schild an Sam Wilson, Comiclesern als "The Falcon" bekannt, abgeben. Wilson war einer der ersten dunkelhäutigen Helden, dessen Etablierung 1969 ein kleiner Skandal war. Nun wird er zum representativsten Helden der Vereinigten Staaten von Amerika. Einen ähnlichen Wechsel gab es auch bei Spider-Man, als in einem der unzähligen Universen Peter Parker stirbt und der Teenager Miles Morales übernimmt. Die Inspiration für den Charakter kam den Zeichnern und Schreibern, als der amerikanische Commedian Donald Glover in einem Spider-Man-Pyjama in der Serie Community zu sehen war. Nicht nur schwarz, sondern auch Moslem ist der aktuelle Träger des Green Lantern Rings Simon Baz. Dass er Libanese ist, gibt ihm in Zeiten wie diesen einen zusätzlichen Kontext. Mit einem schwarzen Präsidenten UND drei schwarzen Superhelden dieses Kalibers zeigen die USA, dass wir in einem Zeitalter der Akzeptanz angekommen sind.
Noch radikaler wird sich der nordische Gott Thor ändern - den trifft nämlich die Frauenquote. Unwürdig seines Hammers Mjölnir wird der aktuelle Thor das Pantheon verlassen und seine Waffe an eine Kriegerin abgeben. Die Herausgeber betonen, dass es keine "Thorine" oder "Thorella" ist, sondern der Donnergott, den die Fans so lieben. Der Name ist in diesem Fall aber eher als ein Titel zu sehen - genau wie Captain America. Ein Thor Girl gibt es im Marvel-Universum schon seit dem Jahr 2000, die war aber eher eine Mitstreiterin mit einem eigenen Hammer. Dieser Wechsel ist selbst mit der mythologischen Grundlage gar nicht so absurd: Thors Halbbruder Loki ist in der Geschichte ein Formwandler, der auch weibliche Gestalt annehmen kann. Das geht so weit, dass er zur Mutter eines ganzen Troll-Volkes wird. Auch Sleipnir, das Pferd von Göttervater Odin ist ein Nachkomme Lokis. Das wird in den Comics nicht unbedingt übernommen. Nun führt dieser Wechsel im Helden-Kader zu einem ganz neuen Titel für Thor, wenn man dessen königliche Abstammung und den Besitzer des Marvel-Verlages beachtet. Seit 2009 gehört dieser nämlich Disney. Trotz mangelnder Gesangsnummern ist Thor somit zu einer Disneyprinzessin geworden. Diese wird sich aber - ähnlich der Eiskönigin aus Frozen - feministische Power der besten Sorte zeigen. Quasi eine selbstrettende Prinzessin, sehr zum Leidwesen vieler Klempner.
Wie ernst der Verlag den Feminismus nimmt, zeigt die aktuelle Inkarnation von Miss Marvel. Diese muss nämlich keine blonde, weiße Frau mehr sein. Stattdessen übernimmt Kamala Kahn, eine 16-jährige mit pakistanischen Wurzeln die Rolle. Schnell ist die Hachwuchs-Heldin zwischen ihrem heroischen Lebensstil und den konservativen Werten ihrer muslimischen Familie hin und her gerissen. Da kommt es ihr nur recht, dass sie im Laufe ihrer Geschichte das Aussehen eines Mädchens annehmen kann, welches unter normalen Umständen "Tiffany" heißen würde. Kamala wird blond, blauäugig und bedient somit den Look, den sie selbst mit Superheldinen assoziiert. Wird es ihr Heldendarsein einfacher für sie? Kein bisschen. Für sie wird die Verwandlung nicht zu einer Befreiung sondern zu einer kräftezehrenden Maskerade. Diese betreibt sie ohnehin schon, um ihre Identität geheim zu halten. In ihrer eigentlichen Form wird zumindest sie selbst zur Heldin und nicht jemand anders. Es braucht keine Tiffany, um Heldentaten zu vollbringen, wie Kamala herausfindet. Die federführende Redakteurin Sana Amanat hat einen beeindruckenden TED-Talk (siehe unten) zu dem Thema "Repräsentation" gehalten.
Nicht nur die kulturelle Identität von Geschlechtern, sondern auch von Sexualität wird immer wieder zum Thema. Schon 1992 wurde der Held Northstar als schwul geoutet. Damals ein Skandal, heute zum Glück nicht mehr. Zwanzig Jahre später wurden im US-Bundesstaat New York gleichgeschlechtliche Hochzeiten erlaubt. Die meisten Helden des Marvel-Ensembles residieren in - ihr ahnt es - New York. Northstar, Mitglied der X-Men und mit bürgerlichem Namen Jean-Paul Beaubier, war es ja schon gewohnt, gegen Ausgrenzung zu kämpfen. Bösewicht Magneto sah in dem Umgang mit Mutanten sogar Parallelen zur Judenverfolgung im dritten Reich. Dementsprechend befreiend war es für Northstar, seinen Partner Kyle endlich das Ja-Wort geben zu können. Ein Beispiel das zeigt, wie die Helden an mehreren Fronten gleichzeitig kämpfen. Viel wichtiger ist, dass hier Charaktere gezeigt werden, die von ihrer ursprünglichen Zweidimensionalität mittlerweile Abstand genommen haben. Tony, Bruce, Sam, Miles, Simon, Thor, Kamala und Jean-Paul zeigen, dass sie nicht nur aus ihren Superkräften bestehen. Genau wie wir haben sie nicht nur ein Attribut, welches eine präzise Zuordnung in eine Gesellschaft oder eine Kultur erlaubt. Nimmt man die Kräfte weg und münzt diese Lektion auf die reale Welt um, funktioniert sie genauso gut. Wir sind mehr als unsere Hautfarbe, unsere Herkunft oder unsere Kultur. Egal ob Nationalität, Sexualität oder Suchterkrankung - es gibt kein demographisches Merkmal, welches uns vollständig definiert. Wir sind die Summe all unserer Geschichten und entscheiden selbst, wie wir damit umgehen. Es kann fürchterlich einfach sein, sich auf ein starkes Attribut zu stützen und in einer Subkultur mit extremen Tendenzen aufzugehen. Dadurch reduziert man sich selbst aber auf die Komplexität eines 1938-Supermans. Comics haben hier eine interessante Rolle eingenommen: Früher haben sie die Grenzen des Möglichen gesprengt indem sie Superhelden geschaffen haben - heute werden sie mit diesen Helden Vorreitern von Ideen. Fiktionale Situationen werden geschaffen, in denen ein Diskurs rund um reale Probleme stattfindet. Die Freiheit, für die so oft gekämpft wird, findet ihren Weg raus aus den gedruckten Seiten und in unsere Köpfe. Bisher unterrepräsentierte Menschen finden plötzlich ein Sprachrohr. Minderheiten erhalten eine Kraft, die stärker ist als jede andere: sie werden wahrgenommen.
Myths, misfits & masks: Sana Amanat bei der TEDxTeen-Konferenz 2014.